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Während die Karriere meines Vaters dauerhaft in einer Sackgasse zu stecken schien, wurden Frances‘ Eltern von Veränderungen erfasst. Lexi war zu etwas befördert worden, das sich Teamleader nannte. Das bedeutete mehr Arbeit und mehr Geld - Geld, das nicht in neue Teppiche oder Tapeten oder solche Dinge umgesetzt wurde, für die unerwarteter Geldsegen in unserem Haus gesorgt hätte. Lexi kaufte zwar eine antike Chaiselongue fürs Wohnzimmer, die neben dem Gasfeuer und dem Dralonsofa ziemlich seltsam aussah, und nach einem harten Tag, an dem sie Berichte geschrieben oder Umfrageergebnisse analysiert hatte, lag sie mit Gurkenscheiben auf den Augen darauf. Leider wurde diese Neuanschaffung bald zu Growths Lieblingsplatz, und es dauerte nicht lange, bis der elegante gelbe Brokat unter einer haarigen Hundedecke verschwand. Mr. Radley dagegen war auf der Leiter des kommerziellen Erfolges noch eine weitere Stufe abgestiegen. Er hatte nach einer kleineren Meinungsverschiedenheit mit dem Hotelmanager den Job als Hotelboy hingeschmissen. Es war offensichtlich nicht das erste Mal, dass er unter solchen Umständen gekündigt hatte.
»Das Problem mit Dad ist, dass er eine Menge Prinzipien hat«, erklärte Frances. »Und er kündigt immer auf Grund des einen oder anderen.« Es war an einem Sonntagmorgen, und wir saßen vor Lexis Frisierkommode und probierten ihr Make-up aus. »Er hat sogar den Hausmeisterposten an dieser privaten Mädchenschule in Hampstead gekündigt, und das war sein Lieblingsjob gewesen. Oder ist er da rausgeschmissen worden? Ich weiß es nicht mehr.« Mit unsicherer Hand trug sie pflaumenfarbenen Lippenstift auf und zog im Spiegel einen Schmollmund.
»Was macht er denn jetzt?«, fragte ich. Ich hatte nicht bemerkt, dass Mr. Radley unbemerkt hinter uns ins Zimmer gekommen war.
»Er ist eine Art Nachtwächter.«
»Was bewacht er denn?« Ich reckte den Hals zu meinem Spiegelbild. Ich zog mir gerade mit einem stumpfen Kajalstift einen Lidstrich, der zu einer dicken, unebenen Linie wurde, als ich Mr. Radley im Spiegel sah und zusammenzuckte, wobei ich mich stach.
»Die meiste Zeit die Uhr«, sagte er, als ich mich mit einem tränenden Auge umdrehte. »Und würdet ihr zwei Schlampen jetzt so gütig sein und hier verschwinden, damit ich ein bisschen Schlaf bekomme.«
Zurück in Frances‘ Zimmer betrachteten wir unsere bemalten Gesichter und kicherten. Ich hatte zwei flammende Streifen aus orangefarbenem Rouge auf den Wangen und ein blutunterlaufenes Auge, das schwarz umrandet war. Frances hatte silbernen Lidschatten bis hoch zu den Augenbrauen und einen verwackelten Clownsmund. Aber es gab bereits einen Unterschied zwischen uns. Ich sah immer noch aus wie ein Mädchen, das das Make-up seiner Mutter ausprobierte; sie sah aus wie eine echte Schlampe.
Frances wurde sich schnell ihrer Anziehungskraft auf Jungs bewusst. Mit dreizehn sah sie schon aus wie fünfzehn. Das war teilweise auf ihre Figur zurückzuführen. Obwohl sie nicht besonders groß war, war sie, was Mutter mit einem leichten Schürzen der Lippen »gut entwickelt« nannte. Sie hatte nicht so verräterisch dünne Beine wie ich, die von oben bis unten gleich schmal waren, wie Stelzen. Und sie zog nicht die Schultern hoch, um sich unsichtbar zu machen, sondern ging gerade, selbstbewusst, Brust raus. Es war aber nicht nur ihr Äußeres. Frances schien starke Signale auszusenden, wie Radiowellen, ohne es auch nur zu bemerken. Immer, wenn wir zusammen loszogen, pfiffen ihr Männer an Baustellen oder aus vorbeifahrenden Lastwagen hinterher und warfen ihr begehrliche Blicke zu, und dann schrie sie wütend »Wichser«, bevor sie sich mit einem Grinsen abwandte. Das passierte mir nie, wenn ich allein war. Sie hatte auch ein Talent, mit fremden Männern Gespräche anzufangen. An der Bushaltestelle standen immer ein paar Jungs, mit denen sie spöttisch plänkelte, und wenn jemand Neues dabei war, hob sie in einer Art ihre Stimme, die deutlich machte, dass ihr Gespräch, selbst mit mir, eine Vorstellung nur für ihn war. Ich ertappte mich dabei, wie ich in dieser Zeit nur allzu oft auf mein »gefrorene Erbsen«-Mantra zurückgriff.
Ab und zu arrangierte Frances ein Stelldichein mit einem der besser aussehenden Bushaltestellen-Kavaliere. Treffpunkt war normalerweise ein beschlagenes Café in der Fußgängerzone, mit zerrissenen PVC-Sitzen, Ketchup-Spendern in Tomatenform auf den Tischen und einer Teemaschine, die den ganzen Tag vor sich hin brodelte. Zu diesen Gelegenheiten wurde ich mitgeschleppt - ähnlich einem Sekundanten bei einem Duell und mit ähnlich geringen Hoffnungen auf einen angenehmen Ausgang. Der entsprechende Junge brachte vielleicht ebenfalls seinen Adlatus mit, und dann saßen wir in einer Nische vor unseren Tassen mit schaumigem Tee, während Frances und Baz oder Gaz oder Jez Pfeffer in die Zuckerdose rührten oder die Ketchupklumpen von der Spritzdüse der Plastiktomate pulten und nach der althergebrachten Methode, Beleidigungen auszutauschen und sich ihre gegenseitige Verachtung zu erklären, miteinander flirteten.
Ihr neuester Schwärm war jedoch ein Freund von Rad namens Nicky, der etwa einsneunzig groß war, lockiges Haar, eine dicke Brille und Akne hatte. Es muss seine Angst vor ihr gewesen sein, was sie attraktiv fand. Rad brachte nicht oft Freunde mit nach Hause, weil die meisten von ihnen im Norden Londons wohnten, näher bei seiner Schule, aber Nicky schien bereit zu sein, die lange Reise in die südlichen Vororte auf sich zu nehmen, und war bald ein regelmäßiger Gast im Haus. Lexi adoptierte ihn sogar bald als eine Art Handwerker. Er wurde ständig aufgefordert, Sachen von den höchsten Regalen zu holen, hohe Fenster zu öffnen und zu schließen, Spinnen von Bilderleisten zu retten und unzugängliche Äpfel von Fish und Chips‘ überhängendem Baum zu stehlen. Da er noch mehr Angst vor Lexi als vor Frances hatte, erhob er keinen Einspruch dagegen. Bei seiner Einführung in die Radley-Familie verursachte er versehentlich eine Krise.
Untypischerweise war die gesamte Familie versammelt: Die Zentralheizung hatte den Geist aufgegeben, und wir saßen alle im Wohnzimmer, wo das Gasfeuer auf höchster Stufe brannte. Selbst Auntie Mim war herunter gekommen und saß eingewickelt in einer Decke auf der Couch.
Lexi blätterte gerade ihr Adressbuch durch. »Wen kennen wir denn, der einen Boiler reparieren kann?«, fragte sie. Die Frage, sich an einen Fachmann zu wenden, stellte sich nicht - kleinere Wartungsarbeiten wurden ausnahmslos von Freunden erledigt oder von Freunden von Freunden, oder von Bekannten von Freunden wenn nötig. Ich war mir nicht ganz sicher, welche Dienste im Austausch dafür offeriert wurden. Vielleicht bot Mr. Radley ihnen an, sie nackt zu zeichnen. »Ich habe erst vor kurzem mit jemandem gesprochen, der jemanden kannte, der seine eigene Zentralheizung eingebaut hat. Wer war das denn noch? Verdammt.«
»Dein Vater ist kein Klempner, oder, Nicky?«, fragte Mr. Radley.
»Nein, er ist Geburtshelfer.«
»Hmm, für so was haben wir nicht mehr viel Bedarf«, sagte Mr. Radley. »Ein Tierarzt - ja.«
»Meine Mutter ist Rechtsanwältin«, fügte Nicky hilfsbereit hinzu.
»Anwältin«, sagte Lexi. »Das muss ich aufschreiben ich glaube nicht, dass wir so was haben.«
»Und Blushs Vater unterrichtet Latein, deshalb ist er nutzlos«, sagte Mr. Radley.
»Nicky Rupp - Geburtsh. und Anw.«, sagte Lexi beim Schreiben.
»Ich nehme nicht an, dass er den Beruf ergriffen hat, um dir von Nutzen zu sein«, sagte Rad, der meinen Vater verteidigte.
»Als ob du so nützlich bist«, fügte Frances hinzu.
»Tja, das ist nur allzu wahr«, gab Mr. Radley gutmütig zu.
»Ich habe einen Onkel, der ein bisschen Ahnung von Autos hat«, warf Nicky schnell ein. Er war noch nicht an die Respektlosigkeiten gewöhnt, mit denen Vater und Kinder sich in diesem Haus bedachten.
»Oh fantastisch«, sagte Lexi. »Wohnt er in der Nähe?«
»Harrogate. Vor allem von Oldtimern.«
»Lass Rad um Gottes willen nicht in ihre Nähe.« Qualvolle Signale seines Sohnes ignorierend fuhr er fort: »Er hat mich in Frankreich fast umgebracht, als er einem toten Igel ausgewichen ist.« Diese Aussage wurde mit einem kurzen, frostigen Schweigen aufgenommen. Mr. Radley wurde leicht rot. Rad blickte zu Boden.
»Willst du damit sagen, du hast Rad in Frankreich fahren lassen?«, sagte Lexi mit einer Stimme, die reines Gift war.
»Ach Scheiße!«, sagte Mr. Radley.
»Gut gemacht, Dad«, sagte Rad bitter.
»Du hast ihn auf französischen Straßen fahren lassen, minderjährig, ohne Führerschein, ohne Versicherung? Wie konntest du so verantwortungslos sein? Was, wenn er jemanden umgebracht hätte?«
»Er hat mich fast umgebracht«, sagte Mr. Radley verärgert. Niemand ist so entrüstet wie die zu Recht Beschuldigten.
Nicky und ich wechselten einen verschwörerischen Blick. »Unsere Familien sind nicht so«, besagte er.
»Es war bloß ein einziges Mal«, sagte Rad. »Und es war sicherer, als Dad in seinem Zustand fahren zu lassen.«
Bei der Erwähnung von Mr. Radleys Zustand schien Lexis Ärger absoluter Müdigkeit zu weichen; wortlos stand sie auf und ging aus dem Zimmer. Nicky und ich entschuldigten uns und gingen bald danach.